Verlassene Architektur in Ostdeutschland: Urbex als neue Form des Industrietourismus

Verfallene Industriehalle

Verlassene Orte haben ihren ganz eigenen Reiz. Besonders in Ostdeutschland, wo der industrielle und militärische Wandel nach dem Ende der DDR zahlreiche Gebäude ungenutzt zurückließ, hat sich eine neue Form des Reisens etabliert: der Urbex-Tourismus. Dabei geht es nicht um klassische Sehenswürdigkeiten, sondern um das Entdecken der Vergangenheit an Orten, die aus der Zeit gefallen scheinen.

Industrielle Relikte zwischen Rost und Beton

In Sachsen, Brandenburg oder Thüringen finden sich zahllose ehemalige Produktionsstätten, die mit dem wirtschaftlichen Umbruch nach 1990 stillgelegt wurden. Besonders bekannt ist die Brikettfabrik „Louise“ in Uebigau-Wahrenbrück. Sie gilt als ältestes noch erhaltenes Brikettwerk Europas und steht heute unter Denkmalschutz – ein Beispiel für gelungene Transformation.

Ein anderes Highlight ist das Gelände der VEB Chemiewerk Coswig. Heute wirkt es wie ein riesiges Freilichtmuseum der DDR-Industriekultur. Verrostete Rohre, zerborstene Fenster und offene Maschinenhallen bieten ein visuelles Spektrum zwischen Endzeitästhetik und dokumentarischem Wert.

Auch das RAW-Gelände in Berlin-Friedrichshain zeigt, wie ehemalige Werkstätten sich in kreative Räume verwandeln können – oder sich dem Zerfall hingeben. Urbexer suchen hier gezielt den Moment des Verblassens industrieller Macht.

Krankenhäuser und Heilstätten: Orte des Verfalls und der Geschichte

Neben der Industrie hinterließen auch medizinische Einrichtungen ihre Spuren. Besonders bekannt sind die Beelitzer Heilstätten in Brandenburg. Einst ein modernstes Sanatorium, später Militärhospital – heute teils saniert, teils dem Verfall preisgegeben.

Das ehemalige Kinderkrankenhaus Weißensee in Berlin erzählt eine andere Geschichte. In den 1990er Jahren geschlossen, zog es über zwei Jahrzehnte Fotograf:innen und Entdecker:innen an – bis es schließlich gesichert und eingezäunt wurde. Der Ort ist ein Lehrbeispiel für das Spannungsfeld zwischen Schutz und öffentlichem Interesse.

Weitere bekannte Beispiele sind das Klinikgelände in Hohenlychen (Mecklenburg-Vorpommern) oder das Krankenhaus in Leipzig-Dösen, das heute eine Mischung aus Lost Place und Kunstprojekt darstellt.

Sicherheit beim Urbexen: Zwischen Abenteuer und Verantwortung

Urbex-Tourismus lebt von der Faszination des Verbotenen – doch Sicherheit hat Vorrang. Viele Gebäude sind einsturzgefährdet, enthalten Asbest oder ungesicherte Schächte. Gute Vorbereitung und Vorsicht vor Ort sind unverzichtbar.

Eine Grundregel lautet: „Nimm nichts mit, hinterlasse nichts.“ Urbexer respektieren die Orte und bewahren ihren Zustand. Wer Graffiti hinterlässt oder Gegenstände entwendet, zerstört nicht nur Kultur, sondern macht sich strafbar.

Die Community arbeitet oft im Stillen, teilt Informationen selektiv und achtet darauf, keine genauen Standorte öffentlich zu machen – aus Angst vor Vandalismus und Übernutzung.

Ausrüstung und Planung für sicheres Erkunden

Zur Grundausstattung gehören festes Schuhwerk, eine Taschenlampe, Erste-Hilfe-Set sowie ein Mobiltelefon mit ausreichend Akkuleistung. Schutzkleidung – etwa Handschuhe oder Atemschutz – ist in Gebäuden mit Schimmel oder Schadstoffen unerlässlich.

Vor dem Besuch sollte man sich über die Geschichte und den baulichen Zustand der Orte informieren. Auch Satellitenbilder können helfen, die Umgebung abzuschätzen. Wer alleine unterwegs ist, sollte jemanden über den Aufenthaltsort informieren.

Besonders wichtig: Respekt vor möglichen Anwohner:innen oder Sicherheitspersonal. Das freundliche Gespräch wirkt oft Wunder – und bewahrt vor unnötigem Ärger.

Verfallene Industriehalle

Rechtlicher Rahmen und Grauzonen

Das Betreten verlassener Gebäude ist in Deutschland grundsätzlich nicht erlaubt, wenn es sich um Privatbesitz handelt. Hausfriedensbruch (§123 StGB) ist eine Straftat. Das gilt auch dann, wenn ein Gebäude „offen“ steht, aber nicht ausdrücklich zugänglich gemacht wurde.

Einige Lost Places befinden sich jedoch auf öffentlichem Grund oder sind offiziell zur Besichtigung freigegeben – wie Teile der Beelitzer Heilstätten. Hier ist urbex legal möglich und wird oft mit Führungen kombiniert.

Anders sieht es bei leerstehenden Militäranlagen oder Bunkern aus. Diese unterliegen oft besonderen Schutzvorschriften. Hier drohen hohe Bußgelder oder strafrechtliche Konsequenzen. Wer sich unsicher ist, sollte vorab Kontakt mit den örtlichen Behörden aufnehmen.

Dokumentation versus Sensation: Verantwortung im Netz

Viele Urbexer dokumentieren ihre Touren in Blogs, auf Instagram oder YouTube. Dabei ist es wichtig, sensible Daten zu anonymisieren: keine Adressen, keine Zugänge, keine Hinweise für Vandal:innen.

Gute Urbex-Dokumentation klärt auf, gibt historische Kontexte wieder und schafft Wert durch Wissen – nicht durch Sensation. Bilder sollten authentisch, aber respektvoll sein. Keine Selfies auf Dächern, keine Videos in Gefahrensituationen.

Die urbex-Community lebt vom Vertrauen. Wer dokumentiert, sollte auch Verantwortung übernehmen – für den Ort, für seine Geschichte und für künftige Besucher:innen.